Alle Teile Europas habe ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bereist. Ich beobachte, wie sich die Landschaft nach und nach verändert – von der Mitte bis zum Nordkap mit dem Nordexpress-Linienbus, mit dem Zug bis Lissabon oder Moskau, mit dem Schiff bis Kreta oder Malta.

Vom Berliner Ostbahnhof fuhr täglich ein Schlafwagen nach Moskau. 1988 konnte man vom Westen aus den Ostbahnhof ohne Probleme erreichen, wenn man über Visum, Hotelbuchung und Rückfahrkarte nach und von Moskau verfügte. Dieses alles besorgte ein Reisebüro in Köln. So trat ich an einem Abend Anfang August meine Reise im Schlafwagen nach Moskau an. Meine Kindergartenfreundin vom östlichen Rande Berlins überraschte mich auf dem Bahnsteig mit einem frisch gepflückten Schälchen Walderdbeeren, wie wir sie in unserer Kindheit in den märkischen Wäldern oft gesammelt hatten. Dann begann die bequeme Reise nach Moskau. Es befanden sich keine Touristen im Zug. Alle Mitreisenden hatten ein bestimmtes Ziel, eine Aufgabe in Moskau. Nach einem guten Schlaf und Frühstück trafen wir auf dem Bahnhof in Minsk ein, wo die Untergestelle der Waggons für die nun folgende weitere Spurbreite gewechselt wurden. Alle Waggons wurden abgeschlossen, man konnte in ihnen bleiben oder sich für etwa zwei Stunden auf dem Bahnhofsgelände in der kühlen Morgenluft ergehen, was ich vorzog. Die Umgebung war weiträumig und öde.

Dann begann ein Reisetag, den ich nie vergessen werde. Wir fuhren, durch keinen Halt unterbrochen, durch dichte Wälder zu beiden Seiten der Bahn, Stunde um Stunde. Man sah keinen Telegrafenmast, keine Straße, keinen Ort. Ganz selten ein Haus, keine Industrie und nicht – wie bei uns – vier bis fünf Reihen dünnen Waldes. Rechts und links gab es eine undurchdringliche lebende grüne Wand aus Laub. Ich staunte über die Lebenskraft zu beiden Seiten der Bahn. Nach einer weiteren Nacht trafen wir am frühen Morgen pünktlich auf die Minute in Moskau ein. Ich war in dem gut besetzten Zug anscheinend der einzige Tourist. Ich wurde an meinem Wagen von einem Russen mit dem Schild „Intourist“ erwartet. Als Westdeutsche bekam ich nur ein Visum, wenn ich Halbpension in einem Fünf-Sterne-Hotel buchte. Da ich die modernen Hoteltürme nicht mag, hatte ich „Hotel National“, das Luxushotel aus der Zarenzeit neben dem Kreml gebucht, ein Jugendstilbau mit wunderschönen farbigen Glasfenstern im Treppenhaus. Der Intourist-Vertreter sprach sehr gut Deutsch. Er führte mich zu einem Taxi und nannte dem Fahrer mein Ziel. Bald waren wir angekommen.

Im Hotel konnte ich Rubel tauschen, Kultur und Ausflüge buchen, Souvenirs kaufen. Für den Abend meiner Ankunft konnte ich noch eine Karte im Parkett des Bolschoi für eine russische Oper kaufen. Ferner buchte ich für die elf Tage meines Aufenthalts drei Intourist-Ausflüge, den ersten nach der alten Hauptstadt Wladimir, den zweiten zu dem berühmten Kloster Zagorsk, den dritten und weitesten nach Susdal. Das ist der östlichste Punkt Europas, den ich je erreicht habe.

Als ich vor das Hotel trat, war ich überwältigt von der Herrlichkeit der roten Backsteinmauern, die den Kreml umgeben. Rot war das Zentrum Moskaus immer, nicht erst seit den Tagen des Kommunismus. Auch im kaiserlichen China war die Farbe des Glücks Rot. Über den roten Mauern wurden zahllos Kuppeln mit goldenen, in der Sonne funkelnden Kreuzen sichtbar. Am folgenden Tag zählte ich sie: es waren 23. Das heilige Russland breitete sich vor meinen Augen aus. Etwas entfernter von mir auf dem Roten Platz stand die Basilius-Kathedrale, für mein mitteleuropäisches Empfinden zu bunt, die Formen zu verspielt. Als der Baumeister sie vollendet hatte, erhielt er von Iwan, dem Schrecklichen, seinen Lohn. Der Zar fragte, was er nun vorhabe. Weiterziehen und bauen, war die Antwort. Der Zar ließ den Meister blenden, damit er für niemanden woanders eine so prächtige Kirche bauen konnte. Auch das war das christliche Russland! Aber die Basilius-Kathedrale ist ein Wahrzeichen Moskaus wie der Kreml. Von meinem Hotel war es ein kurzer Weg zur Moskwa, dem Fluss, der der Stadt den Namen gibt. Ich hatte mir einen Falk-Stadtplan mitgebracht, auf dem die Straßennamen in kyrillischen und lateinischen Buchstaben bezeichnet waren. Ich bin in keinem Land gewesen, in dem die Menschen so wenig in der Lage sind, sich durch Zeichensprache zu verständigen, wie es beispielsweise für  Griechen selbstverständlich ist.

An der Anlegestelle gab es Motorschiffe in großer Zahl. Ich löste eine Fahrkarte und versuchte festzustellen, wie oft diese Schiffe zurückfuhren. Die Kartenverkäuferin gab sich nicht die geringste Mühe, mich zu verstehen, verkaufte mir aber zwei Karten. Ich musste ja rechtzeitig die Oper erreichen. Es war eine wunderschöne Fahrt durch die prächtige Innenstadt. Als ich nach einiger Zeit irgendwo ausstieg, fand ich rasch ein Schiff für die Rückkehr. In der Oper gab es eine klassische Darbietung des Komponisten Modest Mussorgski. Ich habe nirgends den Namen der Oper noch ein Programm gesehen, aber ich war glücklich, im Parkett in einem der berühmtesten Opernhäuser der Welt zu sitzen. Neben mir zu meiner Rechten saß ein gut gekleideter jüngerer Russe, der perfekt Englisch sprach. Nach jedem Akt gab es eine halbe Stunde Pause. Ich glaubte, wegen der realistischen Darstellung den Sinn der Oper zu verstehen, fragte aber in jeder Pause bei meinem Nachbarn nach, der mir immer zustimmte, vielleicht auch nur aus Bequemlichkeit. Ich kaufte mir rasch einen Kaffee, denn es gab an dem Stand nichts anderes. Mein Platznachbar klärte mich auf, dass für Tee eine andere Schlange, für Brötchen wieder eine andere, für Kaltgetränke eine weitere zuständig war. Eine weitere Besonderheit lernte ich außerdem an jenem Abend kennen: An jeder Kasse wurde mit einem Rechengerät aus Reihen bunter Kugeln gerechnet, wie ich es in meiner Kindergartenzeit gesehen hatte, dem Abakus. Es dauerte lange, bis die Person an der Kasse den Preis von 3, 5 oder 6 Kaffees ausgerechnet hatte. Ich verstand überhaupt nicht, was es zu rechnen gab, denn an jeder Schlange wurde nur ein Erzeugnis verkauft, so dass man den Preis eigentlich hätte auswendig wissen müssen. Langsamkeit schien mir nach und nach überhaupt eine Tugend der Russen zu sein.

Doch zurück zum Inhalt der Oper: Der Zarewitsch wurde verfolgt, er floh in den Wald, dort suchten ihn seine Getreuen mit Fackeln. Es war ein hinreißendes Bühnenbild. Zu beiden Seiten dunkler, undurchdringlicher Nadelwald. Dann fiel leise und unaufhörlich vom Bühnenhimmel weißer Theaterschnee. Fackeln der Getreuen leuchteten im Finstern auf. Sie fanden den Gesuchten. Das letzte Bild: Auf der sehr weiten und tiefen Bühne waren realistisch die roten Kreml-Mauern aufgebaut mit dem auch heute noch vorhandenen Tor, durch das nur der Zar reiten darf. Und dann trabte ein echter weißer Schimmel mit dem siegreichen Zaren auf die Bühne. Der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Es war ein unvergesslicher Abend. Mein Hotel lag in der Nähe. Doch im Zimmer erhielt ich am ersten Abend unangenehme Anrufe. Eine – nach der Stimme zu schließen – junge Dame bot in flüssigem Englisch ihre Dienste an. Ich sagte, ich sei eine Dame und brauche niemand. Sie blieb hartnäckig, bis ich nach weiteren Anrufen zu toben begann.

Am nächsten Morgen stellte ich mich in eine lange Schlange russischer Bürger an der Außenmauer des Kreml, wo man für alle Museen innerhalb der Mauern zu einem billigen Einheitspreis Eintrittskarten kaufen konnte. Viele Kostbarkeiten kosteten nichts, nämlich die vielen Kirchen und Kapellen innerhalb der Mauern mit Ikonostasen der berühmtesten russischen Maler. Es gab keinen Übersichtsplan, sodass manches schwer zu finden war. Aber ich hatte Karten für mehrere Tage.

Die russischen Bürger hielten Distanz zu westlichen Ausländern. Setzte ich mich auf eine Parkbank, auf der eine Russin saß, so stand sie nach wenigen Augenblicken auf und lief weiter. Sich tagsüber selbst zu verpflegen, war mühsam. Man durfte in alle Luxushotels gehen, aber an irgendeinem unscheinbaren Imbiss wurde man meist abgewiesen. Doch es gab viele Geschäfte, in denen man nur mit Devisen einkaufen konnte. Dort konnte man z. B. als Mittagsimbiss deutsche Kekse erwerben.

Auch mein Stadtplan half nicht überall. Stieg man beispielsweise an einer U-Bahn-Station aus, so fand sich manchmal an keiner Straßenecke ein Schild. Sie seien abgefallen, sagte jemand. Erfolgreich um Auskunft bitten konnte man immer elegant gekleidete Russen mit Aktentasche, die eilig unterwegs waren. Sie antworteten immer in gutem Englisch und wussten weiterzuhelfen.

Meine drei Intourist-Ausflüge, die ich im Hotel gebucht hatte, führten mich zu weiteren Heiligtümern, Kirchen, Klöstern. Die Mongolen hatten die alte Hauptstadt Wladimir zerstört, aber ein Kleinod ist der wieder aufgebaute Dom. Bei den Tagesausflügen wurde mittags ein neuer, gepflegter Imbiss in den unendlichen Wäldern besucht. Es gab Parkplätze, einen kurzen markierten Weg und stets die Warnung, nicht ohne ortskundigen Führer in den Wald zu gehen. Schon auf dem Gelände der 20 Millionen-Einwohner-Stadt Moskau, der größten Europas, leben Bären, Luchse und Wölfe. Es gibt immer wieder Berichte, wie ganze Gruppen von Menschen, Kleinflugzeuge, Skifahrer, acht oder mehr Personen auf einmal spurlos in der unendlichen Weite, in den weglosen Wäldern für immer verschwinden. Nicht einmal Überreste von ihnen oder ihrer Ausstattung findet man bei einer Suche.

Natürlich besuchte ich in Moskau viele Touristenziele. Die Tretjakow-Galerie war wegen Renovierung für längere Zeit geschlossen, aber in einem Raum hatte man die berühmtesten Ikonen zur Besichtigung freigegeben. Das tausendjährige Neujungfrauenkloster war frisch renoviert und bot sogar eine eindrucksvolle religiöse Zeremonie. Die alten Häuser der Bojaren, der reichen Kaufleute, ließen erahnen, wie vielleicht das Elternhaus der Woloschina ausgesehen hat. Ich besuchte auch den Arbat, den berühmtesten Boulevard mit den Edelsteingeschäften. Die Preise waren nicht günstiger als in Deutschland oder der Schweiz. Im Kaufhaus GUM gab es alles, was man brauchen mochte, auch Südfrüchte.

Politik war im Alltagsleben der Stadt nicht wahrnehmbar, abgesehen von der langen Schlange wartender Russen vor Lenins Mausoleum. Ausländischen Touristen wurde der Zugang damals verwehrt. Alle Sehenswürdigkeiten, vor allem die Kirchen, waren bestens gepflegt.

Mein letzter und weitester Ausflug ging nach Susdal, auch dies ein Wallfahrtsort. Wir fuhren auf der Straße nach Nordosten, auf der einst Lomonossow als junger Mann zu Fuß nach Moskau gewandert ist, um sein Schicksal zu finden. Er ist der später so berühmte Naturwissenschaftler und Namensgeber der Universität. Auf dieser Rückfahrt hatten wir dreimal einen Platten, zweimal gab es einen Ersatzreifen, das dritte Mal mussten wir langsam mit dem Platten nach Moskau zurückzuckeln. Einige deutsche Touristen waren aufgeregt, da ihr Heimflug am selben Abend startete. Zweimal mussten wir zwecks Reifenwechsel den Bus mitten im Wald verlassen. Die Autobahn roch nach Benzin, aber an den Seitenstreifen entfaltete sich die Lebenskraft der russischen Erde in ihrer ganzen Fülle von Blüten unterschiedlichster Farben und einem Reichtum an Schmetterlingen, wie ich ihn nur einmal annähernd als Kind in der Schorfheide in Brandenburg erlebt habe, einst Jagdgebiet der Könige, heute Naturschutzgebiet.

Unser Intourist-Reiseleiter war sehr motiviert und breitete vor uns die Vorzüge Russlands aus: Jedes Kind lernt schon in der Grundschule Deutsch, Englisch und Französisch, sagte er. Ich fragte, warum in Moskau kein Mensch auch nur ein Wort dieser Sprachen spreche. Er antwortete: um ehrlich zu sein, die Lehrer können diese Sprachen nicht. In den teils stürmischen und nassen August-Tagen hatte ich einen heftigen Husten bekommen. Ich musste versprechen, noch am Abend die Ärztin aufzusuchen, die jedes 5-Sterne-Hotel hatte. Mit ihr war immerhin etwas Verständigung auf Latein möglich. Sie versicherte mir, die Pille, die sie mir gab, sei auf pflanzlicher Grundlage. Offenbar war es eine Chemiebombe, denn am nächsten Tag war der Husten verschwunden. Auf der Rückfahrt nach Berlin genoss ich ein letztes Mal die prachtvollen, gesunden, unglaublich dichten Wälder Russlands.

 

Elisabeth Bessau-Stickdorn